Ein Blog aus Hamburg über Hamburg. Eine humorvolle Betrachtung des alltäglichen Treibens. Es geht um die Menschen und die Ereignisse in der Hansestadt. Die komischen Menschen und die komischen Ereignisse. Kleine Ereignisse in der großen Stadt. Leise Töne in einer lauten Umgebung. Amüsant, unterhaltend, manchmal wirr. Eben 'Tüdelkram from Hamburg'.



11. November 2013

Memory Attack

Verzweifelt krallen sich die Erinnerungsfetzen der letzten Tage und Wochen an den Synapsen fest. Das Sortieren fällt ihm schwer. Die Datenträger sind gefüllt mit wilden, bunten Bildern und viel Alkohol. Der Kopf beginnt zu schmerzen. Oder liegt das noch an der Ohrfeige? Der Reihe nach…

Die ersten Erinnerungen sind durchaus positiv. Und das trotz eines Musicals. Oder gerade deshalb? Auf der Reeperbahn abends um acht. Geht auch. Sogar mit Mädel. Aufgrund der straff organisierten Agenda sieht er sich gezwungen, innerhalb von gut vierzig Minuten 0,8 Liter Irischen Gerstensaft in sich zu stürzen. Schmeckt und klappt aber ganz gut. Der Magen kann nur müde lächeln, die Leber registriert es beinahe gar nicht. Nur ein einziges Organ beschwert sich: die Blase. Doch wie schon oft viel zu spät.
Er sitzt bereits im Theater, ein schwer zu beschreibender Signalton hat gerade lautstark den nahenden Beginn der Aufführung proklamiert. Wann mag wohl Pause sein? In einer Stunde? Oder später? Die Blase signalisiert ihm unmissverständlich, dass er nicht mehr so viel Zeit hat. Seiner weiblichen Begleitung entgeht die Notsituation nicht. Sie nutzt die Vorteile des Gangplatzes und erkundigt sich hilfsbereit bei einem vorbeiziehenden Theater-Angestellten nach der Herrentoilette. An vielen Orten dieser Welt eine völlig unauffällige und legitime Frage, die zumeist eine direkte Antwort folgen lässt. Im St. Pauli Theater jedoch löst sie einen Sturm an Gedankengängen aus, was sich im Gesicht des Befragten gut lesbar widerspiegelt. Offenbar widerwillig und mühsam versucht das angesprochene Gehirn eine Verbindung zwischen der Frau und der Herrentoilette herzustellen. Die Gedanken scheinen sich anfangs auf hochkomplizierte, medizinische Eingriffe zu fokussieren sowie im späteren Verlauf um unanständige Unternehmungen mit dem Sitznachbarn zu drehen. St. Pauli eben. Der Angestellte kommt zu keiner richtigen Lösung und antwortet daher ganz pauschal: „Aber jetzt nicht mehr. Und wenn, dann da hinten!“, dabei auf den Ein- beziehungsweise Ausgang zeigend. Der Weg war holprig, aber das Ziel wurde erreicht. Erstaunlich viele Minuten später, das letzte Ultimatum der Blase ist fast abgelaufen, begibt er sich eilig zum nunmehr bekannten Standort des Sanitärbereichs. Als er erstaunlich wenige Minuten später an seinen Platz zurückkehrt, unterhält sich eine der Hauptpersonen auf der Bühne mit einem Transvestiten. 

Luna, Miguel und der Rest - Zusammen "Linie S1"

Zeit für Kultur. In dem Musical „Linie S1“ geht es um einen typischen Hamburger Jung namens Miguel (!), der sich während der Fahrt mit der S-Bahn Linie 1 quasi auf den ersten Blick in die Hamburgerin Luna (!) verliebt. Na ja.
Doch was anfangs etwas banal und märchenhaft daher kommt, erweist sich im weiteren Verlauf als durchaus realistische und bisweilen sozialkritische Darstellung Hamburgs. Von dem ganzen Singsang mal abgesehen. Motive wie Immobilien-Spekulationen, Gewalt, sozialer Abstieg, Armut, Prostitution, Transsexualität und sogar die Elbphilharmonie werden recht unverblümt thematisiert. Dreh- und Angelpunkt ist dabei die namensgebende S1, mit deren Hilfe die verschiedenen Haltestellen beziehungsweise Schauplätze des Musicals „angefahren“ werden: Blankenese, Berliner Tor, Ohlsdorf, Hauptbahnhof, Hamburg Airport, Landungsbrücken und natürlich die Reeperbahn.
Das Stück legt dabei ein rasantes Tempo vor. Bühnenumbauten werden kreativ und gekonnt in die Darbietungen eingebaut, der Vorhang fällt nur zur Pause und am Ende.
Besonders gelungen und daher an dieser Stelle gesondert zu nennen, sind die tänzerische Darstellung des Arbeitsalltages einer Prostituierten sowie die Episode „Was passiert, wenn man alleine und wartend vorm Hauptbahnhof steht“.
Auch musikalisch ist die Vorstellung in der Breite gut aufgestellt. Die Lieder stammen zwar überwiegend aus der Feder Hamburger Interpreten oder handeln wenigstens von Hamburg, doch die Palette erstreckt sich von Hans Albers über Udo Lindenberg bis hin zu Sammy Deluxe. Die Töne dazu kommen live von einer sechsköpfigen Band, die sich direkt vor der Bühne versteckt.
„Linie S1“ wird an wenigen, ausgewählten Tagen noch bis zum 07. Februar 2014 im St. Pauli Theater zu sehen sein.
 
Ja, ja, die Bahn. Ein durchaus großer Erinnerungsbrocken schiebt sich plötzlich ganz nach vorne. Ungewohnt häufig vernahm er in letzter Zeit „Live-Durchsagen“ von Zugführern, die sich selbst neuerdings „Zugfahrer“ nennen. Spontan verleiten diese Eindrücke zu einer Hitliste:
 
Platz 3: „Die Fahrradmitnahme ist erst ab 18 Uhr gestattet“
Begründung der Jury: Bereits oft und vielfältig haben Zugführer a.k.a. Zugfahrer die Passanten mit Einstiegsabsichten darauf hingewiesen, dass Fahrräder zu bestimmten Zeiten, den sogenannten Stoßzeiten (auch Rushhour), nicht mitgeführt werden dürfen. In der Regel griff man hier bislang auf sehr saloppe und knappe Ausrufe, wie zum Beispiel „Das Fahrrad bleibt draußen!“ zurück.
„Die Fahrradmitnahme ist erst ab 18 Uhr gestattet“ bedient sich hingegen eines völlig neuen und erfrischenden Jargons und scheint dadurch in der Wirkung noch effektiver.
 
Platz 2: „Bitte benutzen sie auch die anderen Eingänge“
Begründung der Jury: Ein Satz, viele Aussagen. In erster Linie möchte der Zugführer die panische und drängelnde Meute lediglich darauf hinweisen, dass es viele verschiedene Zugänge zum Schienenfahrzeug gibt. Im Subtext übermittelt er damit gleichzeitig, dass die Eingänge unterschiedlich stark frequentiert sind und regt an, die persönliche Auswahl vielleicht noch mal zu überdenken. Des Weiteren werden zur selben Zeit praktisch alle Fahrgäste darüber informiert, dass es einen hohen Andrang auf das Fahrzeug gibt und sich die Weiterfahrt möglicherweise verzögern wird.
Ist die Wichtigkeit dieser Ansage auch zweifelhaft, so gibt es über ihre Vielfältigkeit keine zwei Meinungen.
 
Platz 1: „Bitte zurückbleiben, bitte“
Begründung der Jury: Ein Klassiker neu interpretiert. Die Mutter aller Ansagen „Zurückbleiben, bitte“ kann sicher jedes Kind mitsprechen. Dieser Ausruf hat sich so sehr verinnerlicht, dass seine Bedeutung schon fast in Vergessenheit geraten ist. Mit dem Sequel „Bitte zurückbleiben, bitte“ ist ein gelungenes Remake entstanden, welches die Empfindungen beim Hörer völlig neu gestaltet und dennoch das Original praktisch kaum verändert hat. Selbst Sprachwissenschaftler haben diesen Titel zur Diskussion gemacht und wähnen bereits die Entdeckung eines neuen Wortes: „zurückbleibenbitte“ – das Zurückbleiben nach höflicher Anordnung.
Wortwörtlich heißt es in der Urteilsbegründung der Jury: „Kritiker deuten hier die Unfähigkeit, etwas Neues auszuprobieren. Noch während des halbherzigen Versuches verfällt der Interpret in das altbekannte Schema. Doch die Jury sieht hier die gelungene Neuauflage eines Evergreens, der es gelingt, das Original weitestgehend unberührt zu lassen und die Wirkung beim Hörer dennoch gänzlich zu verändern. Nicht wenige werden ob der ungewohnten Klänge innehalten und der Anordnung somit unbewusst Folge leisten.“
 
Zurück zur Reeperbahn. Neue Erinnerung. Diesmal Samstag. Spät. Mit dem Kumpel mal wieder unterwegs. Zwei Männer, die sich bereits erfolgreich bis zur Fahruntauglichkeit getrunken haben, betreten optimistisch gestimmt eine nicht minder gut gefüllte Bar auf der Großen Freiheit. Schon alleine aufgrund der vorherrschenden Platzproblematik ist der Kontakt zu anderen Menschen unausweichlich. Ist nicht immer schön, aber heute haben sie Glück. Sie geraten an eine ihnen zahlenmäßig deutlich überlegene aber überwiegend friedlich gestimmte Gruppe Frauen aus Irgendwo. Einige von ihnen sind auch aus Irgendwodavor. Sie heißen Lisa, Laura, Lara oder so. Egal. Nette Runde. Es wird viel geredet, viel gelacht und viel getrunken. Und plötzlich passiert es. Es trifft ihn völlig unerwartet. Von rechts. Diese kleine Lisaoderso zieht voll durch. Für einen kurzen Moment sieht er nichts, danach blickt er in erstaunte Gesichter. Spontan will er ihnen zurufen: „Was soll ICH denn erst sagen???“
Dieses Lisading steht auf wackeligen Beinen, glotzt ihn an und grinst. Bis eben war sie ihm noch ganz sympathisch. Er geht zielstrebig auf sie zu, sie weicht energisch zurück. Nach ein paar Schritten Stillstand. Er beugt sich leicht auf Augenhöhe hinunter und fragt überraschend ruhig: „Hast du mich gerade geschlagen?“ Der Lisanator weicht seinem Blick aus aber antwortet zögerlich: „Kann sein.“

Volltreffer!                                           Quelle: welt.de

Faszinierend. Besonders fasziniert ihn auch, dass diese ganze Situation offenbar keinen der anwesenden Menschen interessiert. Er versucht sich auszumalen, was wohl geschehen wäre, wenn es anders herum abgelaufen wäre. Wenn er diesem kleinen Giftzwerg eine gelangt hätte. Einfach so. Oder wenn er ihr jetzt, in diesem Moment, eine auf die zwölf geben würde. Vermutlich würden sich die umstehenden Damen allesamt auf ihn stürzen, die künstlichen Fingernägel ins Genick rammen und sich am Hals festbeißen. Daraufhin würden ihn dann die Türsteher an den Haaren hinaus schleifen, dabei wie zufällig die Arme brechen und vor dem Ausgang an die bereits wartenden Polizeibeamten übergeben.
Er belässt es bei einer mündlichen Ermahnung aber lässt die Verrückte nicht mehr aus den Augen. Glücklicherweise räumt sie alsbald das Feld und belästigt fortan die Männer im Eingangsbereich. Von einer anderen Lisaodersoähnlich erfährt er nur noch, dass die soeben erlebte Aktion von Liszilla wohl gar nicht so ungewöhnlich für sie war. Na dann.

Kurze Rückfrage ans Hirn: war noch was? Nicht? 
Reicht ja auch.


2 Kommentare:

  1. Herrlich erfrischend. :D Als wäre man dabei gewesen, bitte, bitte mehr davon.

    LG
    ACunicorn

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    1. Moin ACunicorn!

      Also auf weitere Ohrfeigen kann ich gut verzichten ;)
      Aber danke für das positive Feedback. Zum nächsten Kiezbummel nehme ich Euch, literarisch gesehen, natürlich wieder mit...

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